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Di | 26.11.2013
Türkei Kurden sind auf dem Sprung
Für Istanbul-Touristen ist der europäische Stadtteil Beyoglu mit seinen Einkaufstraßen und den vielen Cafes ein Magnet. Doch das Viertel hat ein zweites Gesicht, das vielen Besuchern verborgen bleibt.
Etwas tiefer gelegen und abgetrennt durch den mehrspurige Tarlabasi Bulvari beginnt das ärmliche Beyoglu, in dem Prostitution und Drogenhandel blühen.
Vor Gewalt und Armut geflohen
Ausgerechnet hier haben viele Kurden, die vor Gewalt und Armut im gesellschaftlich konservativen Südosten des Landes geflohen sind, ihre Wohnungen. Hunderttausende Kurden sind seit den 80er Jahren wegen der Kämpfe zwischen der türkischen Armee und der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK in den wirtschaftlich erfolgreicheren und sichereren Westen des Landes geflohen.
" ... Diebe, Verbrechen und Drogen ... "
"Aus der Ferne sieht Istanbul sehr groß und sehr schön aus", sagt der Kurde Ahmed Akan, der ursprünglich aus der etwa 100 000 Einwohner zählenden Stadt Midyat stammt und 2004 in die Millionenmetropole Istanbul gezogen ist. "Als ich Diebe, Verbrechen und Drogen sah, überall Drogen, war ich schockiert", sagt er über das Viertel. Er lebt von seiner Arbeit als Bauarbeiter und vom Straßenhandel mit Prepaid-Karten für Mobiltelefone.
"Es war wie ein Krieg gegen die Kurden"
Die Jahre 1991 bis 1993 waren in Midyat eine Zeit der Gewalt, erinnert er sich. "Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Menschen getötet oder verschleppt wurden", sagt er. "Es war wie ein Krieg gegen die Kurden." Die Armee habe Dörfer zerstört. Sogenannte Dorfschützer - eine von der Regierung unterstütze Miliz - übernahmen die Kontrolle. Nach unterschiedlichen Angaben sind zwischen 500 000 und zwei Millionen Kurden wegen der Kämpfe geflohen.
"Wer bleiben wollte, musste die Erniedrigung akzeptieren ..."
Ahmed traute sich zeitweise nicht mehr auf die Straße. "Wer bleiben wollte, musste die Erniedrigung akzeptieren. Dazu war ich nicht bereit", sagt er. Seine fünf Söhne schickte er zu seinem Vater aufs Dorf. Für ihn begann eine Odyssee über mehrere türkische Städte. Richtig heimisch werden viele Kurden, die oft in den ärmlichen Vororten der westtürkischen Städte leben, dort nicht.
Fast jeder zweite Kurden ist auf dem Sprung
Fast jeder zweite der mindestens zwölf Millionen Kurden in der Türkei ist gewissermaßen auf dem Sprung in einen anderen Ort, berichtet die türkische Tageszeitung "Radikal". 13,4 Prozent wollten dringend weg, um einer hoffnungslos empfundenen Lage zu entkommen. Mehr als ein Drittel denke an Migration, habe es aber nicht so eilig.
"... nun schafft die PKK das Kurdenproblem"
Die wieder zunehmende Eskalation der Gewalt im Südosten des Landes, Armut und schlechte Ausbildung seien die Probleme, schreibt das Blatt. Die Türkei müsse sich dieser Probleme annehmen, auch wenn es schwierig sei, im Schatten der Gewehrläufe über friedliche Lösungen zu sprechen. "Das Kurdenproblem hat die PKK hervorgebracht, nun schafft die PKK das Kurdenproblem", beschreibt die Zeitung die Situation.
"Mit den türkischen Menschen haben wir doch kein Problem"
Ahmed, der türkische Kurde aus Beyoglu, sieht die Schuld anders verteilt. Die türkische Regierung müsse ihre Reformversprechen einlösen. "Wir wollen unsere Rechte: Sprache, Kultur, Identität. Nur das" sagt er. "Mit den türkischen Menschen haben wir doch kein Problem. Aber wenn die kurdische Frage nicht beantwortet wird, gibt es keinen Frieden."
dpa cn xx w4 moVon Carsten Hoffmann, dpa =