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Di | 26.11.2013
Leipziger Buchmesse "Kroatien: ein lebendiges Literaturland"
Die Leipziger Buchmesse fördert seit vielen Jahren die Literatur aus Mittel- und Osteuropa. Dieses Mal steht von diesem Donnerstag an bis 16. März das Land Kroatien im Mittelpunkt.
Die Leiterin des Projekts ist die gebürtige Kroatin Alida Bremer. Die 48-jährige Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Übersetzerin berichtet in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur dpa von der lebendigen Literaturszene Kroatiens. Diese sei geprägt von einer Vielfalt an Themen und Stilrichtungen sowie von der Multikulturalität der geografischen Lage der kleinen Republik zwischen Mitteleuropa, Mittelmeer und Balkanregion.
Kroatien Schwerpunktthema dieser Buchmesse?
Bremer: "Bereits seit 2001 sind wir in Leipzig präsent und eng vernetzt mit Buchmesse-Veranstaltungen wie "Leipzig liest" oder dem "Forum kleine Sprachen - Große Literaturen". Inzwischen vermittelt eine Literaturagentur in Leipzig junge kroatische Autoren, und der in Leipzig ansässige Verlag Voland & Quist verlegt Werke kroatischer Schriftsteller auf Deutsch. So entstand ein reger Austausch zwischen deutschen Schriftstellern wie Thomas Brussig und kroatischen Autoren auch bei der Buchmesse in dem kleinen kroatischen Ort Pula. Nach Leipzig sind jetzt neben Schriftstellern aus Kroatien auch Autoren aus Bosnien, Montenegro und Serbien eingeladen, die das zerfallene Jugoslawien bildeten."
Was zeichnet die Literatur Kroatiens aus?
Bremer: "Kroatien ist ein äußerst lebendiges Literaturland. In den vergangenen Jahren hat sich vor allem eine urbane Prosa herausgebildet, wie überall in Europa. Es herrscht ein regelrechter Wettkampf unter jungen Autoren, mit dieser Art von ironischer, witziger Realitätsprosa Missstände aufzudecken - im eigenen Land und außerhalb. Die Werke besonders der jungen Generation sind sehr originell und nicht etwa nur von der selbsttherapeutischen Aufarbeitung der Kriegstraumata geprägt. Vielfach wird in den Büchern das verschwundene multikulturelle Mitteleuropa thematisiert: Die unglaublich facettenreiche Vergangenheit der Region mit Verbindungen zum Balkan und dem Islam, zum Orient, aber auch zum lateinischen Kulturbereich und zum Katholizismus, zum Mittelmeerraum, zur einstigen k.u.k.-Monarchie und Österreich, Ungarn, Polen und Tschechien. Häufig wird die als arrogant empfundene Haltung Westeuropas gegenüber der Balkanregion witzelnd aufs Korn genommen."
Welche Autoren und Themen sind derzeit besonders angesagt?
Bremer: "Auch auf deutschen Bühnen präsent ist die 32-jährige Ivana Sajko mit Dramen wie "Europa". Sie ist mit drei neuen Theaterstücken und einem Roman über den letzten Krieg zur Buchmesse gekommen. Ihr Stil ist sehr experimentell, politisch und im modernen Sinn radikal- weiblich. Der 50-jährige Edo Popovic gilt als Vertreter der sogenannten Rock 'n' Roll-Generation und des "schmutzigen Realismus". Sein neuer Roman "Kalda" erzählt von Sozialismus, Krieg, Wendezeit und der Gegenwart, aber auch vom Westdeutschland der 70er Jahre. Gefragt ist auch der Dichter Delimir Resicki. Er ist wirklich ein "Kind der Region" und hat deutsch-kroatische-ungarisch-jüdisch-polnische Wurzeln und gehörte zu den Rebellen der 80er. Der 30-jährige Igor Stiks zeichnet sich durch sein internationales Denken und seine großen Themen aus. In seinem Werk "Die Archive der Nacht" geht er den europäischen Verflechtungen seit dem Zweiten Weltkrieg nach, übt Kritik an Westeuropa und an den westlichen Kriegsberichterstattern im Jugoslawienkrieg."
Inwiefern hat der Jugoslawienkrieg die Werke der jüngeren Autoren geprägt?
Inwiefern hat der Jugoslawienkrieg der 90er Jahre die Werke der jüngeren Autoren geprägt?

Bremer: "Die Jungen wuchsen in prekären Zeiten auf, haben Leid, Aggression und Flucht am eigenen Leib erlebt. Geblieben ist ihnen ein großes Misstrauen gegenüber jeder Form von Macht und Ideologie. Dazu gehört auch die Skepsis einer Zeit gegenüber, in der nur noch herumgehetzt und kaum noch nachgedacht wird und die Menschen im Netz der globalen Technisierung gefangen sind. Kunst und Schreiben werden da für viele zu einem radikalen Akt - man will keinesfalls gefällig sein und sich kaufen lassen. Kennzeichnend ist ganz allgemein ein tiefer Vertrauensverlust."
Wird in Kroatien viel gelesen?
Bremer: "Als Erbe der sozialistischen Erziehung wird vergleichsweise sehr viel gelesen. Allein zur Pflichtlektüre eines Gymnasiasten gehören rund 120 Werke der Weltliteratur, das ist ein verbindlicher Wertekanon. Autoren sind in Kroatien wichtige Persönlichkeiten der Öffentlichkeit und werden zu aktuellen Themen befragt."
Wie sieht es nach der Zerschlagung Jugoslawiens mit der Verlagsszene aus?
Bremer: "Die Verlagsszene von Kroatien ist meines Wissens die beste in ganz Südosteuropa. Nach der großen Krise gab es ein richtiges Aufblühen. Viele neue, kleine Verlage entstanden. Mittlerweile hat ein Umstrukturierungsprozess eingesetzt, es überwiegen große und mittlere Verlage. Ein Problem ist aber noch immer das Buchhandlungsnetz. Die großen Verlage haben oft auch eigene Buchhandlungen, für die kleineren Herausgeber ist es jedoch schwierig, die Bücher zu vertreiben."
Das Gespräch führte Brita Janssen/dpa