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Di | 26.11.2013
Učiteljica - slika:dpa
Wenn Schüler Geschichte vergessen
Wann Adolf Hitler an die Macht gekommen ist? "1933 war das, im November", sagt ein Schüler. "Quatsch, Oktober", meint ein anderer.
Die Antworten an einer Hamburger Berufsschule auf Fragen nach der NS-Zeit zeigen, dass dieses Kapitel deutscher Geschichte häufig vergessen wird, dass Hintergründe und Ursachen aus dem Blick geraten.

Wie Hitler an die Macht gekommen ist? Schulterzucken, Schweigen. Dann wirft ein 17-jähriger richtig, wenn auch verkürzt ein: "Der ist doch sogar gewählt worden." Was sie mit Hitler verbinden? "Judenvernichtung", sagt einer. Die meisten aber glauben: "Der hat die Autobahnen gebaut."
Vor 75 Jahren am 30. Januar 1933
Vor 75 Jahren begann am 30. Januar 1933 mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler durch Präsident Paul von Hindenburg die Umwandlung der zerfallenden Demokratie in eine Diktatur und damit die zwölfjährige Terror-Herrschaft der Nationalsozialisten. Dass die erste inoffizielle Autobahn bereits 1932 eröffnet wurde und die eigentlichen Pläne aus der Weimarer Republik stammen, ist unbekannt. "Die Amis waren und sind sowieso viel schlimmer", sagt ein 17-Jähriger. Und einem Mitschüler fällt noch ein: "Hitler war doch Schweizer" - obwohl er aus Österreich stammte.
"Alles bewältigt, nichts begriffen! ..."
"Es ist erschreckend, was Schüler und Studenten heute über diese Zeit noch wissen", sagt der Bremer Professor für Erziehungswissenschaften, Freerk Huisken. Zusammen mit Rolf Gutte hat er das Buch "Alles bewältigt, nichts begriffen! Nationalsozialismus im Unterricht" verfasst. Rund 60 Lehrbücher haben sie untersucht. "Das Geschehen wird reduziert auf Machtergreifung, Holocaust, Antisemitismus, Euthanasie und Zweiter Weltkrieg", kritisiert Huisken.
Die Ursachen, warum sich der Faschismus aus der Demokratie heraus entwickeln konnte, und Parallelen zu heute würden ausgeblendet. Schon der Begriff "Machtergreifung" sei falsch, weil es sich nach den NSDAP-Wahlerfolgen 1932 um einen zunächst legitimen Machtwechsel gehandelt habe. Die Frage, wie die Nazis ihre Herrschaft etablierten, bleibe durch Aussparen der Wirtschafts-, Sozial- und Familienpolitik häufig unbeantwortet. Die Präsidentin des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, hatte 2007 kritisiert, dass die Weimarer Republik in den Geschichtsbüchern zu kurz komme: "Wir müssen der Frage nachgehen, wie es zum Nationalsozialismus kommen konnte."
T-Shirt mit Judenstern und Wort "Raucher"
Studenten in seinen Seminaren legt Huisken regelmäßig eine Sammlung anonymisierter Zitate von Hitler, Willy Brandt, Gerhard Schröder, Helmut Kohl und Angela Merkel sowie von der NPD und aus dem Grünen-Programm vor. "Bei der Zuordnung passiert es immer wieder, dass Hitler-Zitate Willy Brandt und NPD-Aussagen den Grünen zugeschrieben werden."

Kürzlich hatte ein 30-Jähriger aus Schleswig-Holstein im Internet ein T-Shirt mit einem gelben Judenstern und dem Wort "Raucher" in dessen Mitte zum Verkauf angeboten. Keineswegs war ein rassistischer Hintergrund zu unterstellen, sondern Unwissenheit. Er sah Raucher ähnlich ausgegrenzt wie damals die Juden - ein Vergleich, der scharfen Protest des Zentralrats der Juden hervorrief.
Unterricht zu trocken
Der Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbandes (DPHV) in Berlin, Heinz-Peter Meidinger, sieht bei Lehrplänen an Schulen kein Defizit. Es gebe vielmehr ein Übersättigungsgefühl, viele Schüler empfänden den Unterricht als zu trocken. "Und es gibt ein starkes Konkurrenzangebot durch Fernsehen und Filme, wo vieles verkürzt dargestellt wird."
Einfluss "bösartiger Computerspiele"
Zudem sieht der Oberstudiendirektor einen Einfluss "bösartiger Computerspiele", die das NS-Regime verharmlosen. "In den Köpfen der Kinder und Jugendlichen sind unheimlich viele Bilder, die sie nur schwer zusammenbringen." Durch die aussterbende Kriegsgeneration fehlten den etwa 11 Millionen Schülern zunehmend die authentischen Zeitzeugenberichte. "Dadurch geht bei vielen jungen Menschen das Grundverständnis verloren."
Keine Pauschalurteile
Der 53-Jährige betont aber auch, dass es zahlreiche Schüler mit großem Interesse an dem Thema gebe. Auch das Beispiel der Hamburger Schule zeigt, dass sich keine Pauschalurteile über die dritte und vierte Generation nach der NS-Herrschaft fällen lassen. So wendet der 17-jährige Patrick ein: "Ich finde, das muss ein Thema bleiben. Denn wenn es vergessen wird, kann es nochmal passieren".
Von Georg Ismar, dpa