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Di | 26.11.2013
Buenos Aires Täter und Opfer leben Tür an Tür
Für europäische Auswanderer war Argentinien nach den USA das Zielland der zweiten Wahl. Jüdischen Flüchtlingen bot es einen ersten Unterschlupf vor Verfolgung und Tod im Deutschland der Nazis.
"Zerrissenen Identität"
Nach dem Krieg fanden dort jedoch die Täter des NS-Regimes für Jahrzehnte ein sicheres Versteck. "Kaum ein Einwanderungsland ist so vielfältig und gegensätzlich wie Argentinien mit seiner Hauptstadt Buenos Aires", sagt die Direktorin des Deutschen Auswandererhauses, Simone Eick.
"Bis heute sprechen selbst Argentinier von einer zerrissenen Identität."
Warum das so ist, soll eine dreimonatige Sonderausstellung zeigen, die am Sonntag (21.) in dem Bremerhavener Museum beginnt.
"Träume, Tränen, Tango"
"Träume, Tränen, Tango" - der Untertitel der Sonderschau spiegelt genau jene Emotionen wider, die viele Menschen als erstes mit dem südamerikanischen Land verbinden. "Auch wir haben zunächst an Buenos Aires an die Stadt der Sehnsucht gedacht", erinnert sich die Historikerin Katrin Quirin.
Auswandererhaus
Obwohl sich das 2005 eröffnete und in 2007 zum europäischen Museum des Jahres gewählte Auswandererhaus in erster Linie mit den Migrationsbeziehungen zwischen Europa und den USA befasst, stand Argentinien schon lange auf der Agenda der Verantwortlichen. Nicht nur weil der südamerikanische Staat schon im 19. Jahrhundert "das Bevölkern des Landes" zum Regierungsziel erklärt hatte: "Schon bei der Vorbereitung des Museums haben wir in einem Archiv den detaillierten Bericht eines deutschen Auswanderungsbeamten über Argentinien gefunden, der so liebevoll gemacht ist wie ein Poesiealbum", sagt Eick.
300 deutschen Siedler
Bei der näheren Beschäftigung mit der Geschichte des Einwandererlandes Argentinien entdeckten Eick und Quirin aber nur noch wenig Poetisches. Das Schicksal der 300 deutschen Siedler in der bis heute existierenden "Colonia Liebig" war da noch das Harmloseste, wenn auch typisch für die Auswahl des Ziels: "Sie wollten eigentlich nach Paraguay, wurden dort aber um ihren Besitz betrogen. Nach Argentinien kamen sie nur, weil ihnen die dortige Niederlassung von Liebig-Fleischextrakt Land verschaffte", erläutert Eick.
"24 h Buenos Aires"
Doch nicht jede Auswanderergeschichte war unterm Strich so glücklich wie die der Liebig-Siedler, die sich mit dem Anbau der Yerba-Pflanze für das argentinische Nationalgetränk Mate-Tee ein gutes Auskommen sicherten. In dem Dokumentarfilm "24 h Buenos Aires", den der aus Argentinien stammende Dokumentarfilmer und Grimme-Preis-Träger Ciro Cappellari gedreht hat, erinnert sich Betina Ehrenhaus an die Familie ihres aus Deutschland eingewanderten Vaters: "Sie waren mit Richard Strauss bekannt. Meine Großmutter war eine bekannte Opernsängerin." Und nach einer kurzen Pause: "Sie starb im Konzentrationslager Dachau."
Nazi-Verbrecher
Im Einwanderungsland Argentinien fanden auch Adolf Eichmann, der KZ-Arzt Josef Mengele sowie zahlreiche namentlich nicht so bekannte Nazi-Verbrecher teilweise für Jahrzehnte ein sicheres Versteck. Fassungslos stellte Quirin bei ihren Recherchen mit Hilfe argentinischer Journalisten fest: "In manchen Fällen wohnten Täter und Opfer buchstäblich Tür an Tür." Für Eick und Quirin zeigt das, was Argentinier selbst über sich und ihr Land sagen. "Es ist eine Nation mit einer zerrissenen Identität." Zu den Ursachen für diese Zerrissenheit zählen nach Überzeugung Quirins und Eicks aber auch die Gräueltaten der argentinischen Militärdiktatur.
"Damals war ich im Bauch meiner Mutter"
Manche Teile der Ausstellung sollen die Besucher ohne jeden politischen Ballast emotional berühren. Beispielsweise die Geschichte von Lebin Weckesser, der eigens für die Ausstellungsvorbereitung nach Deutschland geholt wurde. Tief bewegt steht er in dem Cappellari-Film an jenem Kai in Bremerhaven, von dem seine Mutter nach Argentinien startete: "Damals war ich noch im Bauch meiner Mutter", sagt der alte Mann nachdenklich auf Spanisch. Nach einer kurzen Pause fährt er in gebrochenem Deutsch mit einem Lächeln fort: "Ich komme aus Deutschland."
Von Wolfgang Heumer/dpa