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Di | 26.11.2013
Die Zeit, Das Boot ist nicht voll
Michael Lohmeyer meint in Die Zeit, Hamburg, 19. 12. 07, dass die Politiker nur langsam die österreichische Realität akzeptierten:
Zuwanderung finde statt
Er erwähnt, dass Günther Platter sich im Fall Arigona nicht dem Druck beugen wolle, während gleichzeitig im Innenministerium daran gearbeitet werde, in der Ausländerpolitik endlich ein gewisses Maß an Planungssicherheit einzuführen. Wilhelm Sandrisser, stellvertretender Sektionsleiter, bereite derzeit einen Integrationsbericht vor.

„Darin, so der Plan, wird in allen Schattierungen dargestellt, wie Migration und Zuwanderung zwischen Neusiedler und Bodensee aussehen. Diese Bestandsaufnahme soll nach ausführlicher Diskussionsphase schließlich in einem landesweiten "Integrationskonzept" münden.
Ganz neu ist die Idee nicht. Aber zum ersten Mal wird ein derartiges Konzept auf Bundesebene entworfen."
"Sozialschmarotzer"
"Es birgt auch ein Bekenntnis: Denn wo Integration ist, muss auch Zuwanderung sein. Was selbstverständlich klingt, ist es ganz und gar nicht. Zuwanderung ist in Österreich ein übel beleumundeter Begriff mit einer langen Geschichte, die ein Integrationskonzept nicht als kleinen Schritt, sondern als großen Sprung
erscheinen lässt.
Warum das so ist, zeigt ein Blick zurück. Immer stärker drängten sich 1991 Meldungen über Arbeitslosigkeit in die Schlagzeilen. Es ist der erste Montag im Mai, als ein Politiker in einer Journalistenrunde laut darüber nachdenkt, wie der Missbrauch von Sozialleistungen geahndet werden könne. Er ist roter Gewerkschafter, im
Zentrum der Sozialdemokratie fest verankert und seit ein paar Monaten Sozialminister. Es nützt Josef Hesoun wenig, dass er fortan beteuern wird, nie den Begriff "Sozialschmarotzer" in den Mund genommen
zu haben. Dem Wort wird der Boden bereitet, Stück um Stück wird Ausgrenzung salonfähiger und "Zuwanderung" zu einem Unwort, das immer häufiger in einem Atemzug mit "Sozialschmarotzer" fällt."
"Der Applaus kommt von rechts"
"Der Applaus kommt von rechts. Dort hat Jörg Haider seit Jahr und Tag gegen "Sozialschmarotzer" getrommelt.
Nun erwählt er Hesoun zu seinem Bruder im Geiste. Mag sein, dass dabei mitschwang, was die beiden Migrationsforscher Heinz Fassmann und Rainer Münz vermuten: dass sich nämlich mit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 auch die Einschätzung der Zuwanderer aus dem östlichen Europa geändert hatte. ‚Die Logik des Kalten Krieges unterstellte all jenen, die ein kommunistisch regiertes Land verließen, edle Motive.’

Bis dahin verlief die Geschichte um Neoösterreicher geradezu spektakulär unauffällig: Spätestens in den sechziger Jahren wurde Nachkriegsösterreich zu einem Zuwanderungsland, ohne dass das Thema zu
innenpolitischen Verwerfungen geführt hätte. 1961 fassten die Sozialpartner den Grundsatzbeschluss, ausländische Arbeitskräfte nach Österreich zu holen, im gleichen Jahr wurde auch das ‚Inländerschutzgesetz’ außer Kraft gesetzt – es war 1925 von einer christlich-sozialen Regierung beschlossen worden, um
Ausländer vom Arbeitsmarkt fernzuhalten, solange es Inländer ohne Job gab."
Arbeitsamt am Südbahnhof
"Die jetzt folgende Suche nach Arbeitskräften aus dem Ausland sollte aber erst im zweiten Anlauf gelingen. Der erste war ein Abkommen mit Spanien 1962 – aber nur wenige wollten von der Iberischen Halbinsel in die Alpenrepublik. Erst im zweiten und dritten Anlauf (1964 und 1966) klappte, was damals als ‚Einladung an Gastarbeiter’ bezeichnet wurde: Zehntausende kamen, erst aus der Türkei, später aus Jugoslawien. 1967 wurde am Südbahnhof sogar ein provisorisches Arbeitsamt eingerichtet. Diese Zuwanderung sollte nicht mehr abreißen, bis heute nicht.“
Bei der Gegenbewegung in den späten 80er und frühen 90er Jahren habe da SPÖ-Zentralsekretariat die Losung ‚Das Boot ist voll’ ausgegeben, entsprechende Gesetze wären gefolgt.
„Schritt um Schritt wurden die Grenzen schwerer überwindbar. Österreich wurde ein abgeschottetes Land. Dennoch bescheinigen die Statistiker mittlerweile einem Sechstel der Bevölkerung einen Migrationshintergrund – in Summe 1,3 Millionen Bürgern, knapp 830000 von ihnen haben eine ausländische
Staatsbürgerschaft. Die meisten leben in Wien, in den Landeshauptstädten Graz und Linz sowie in zwei von vier Bezirken Vorarlbergs. Die Stadt Salzburg hat den zweithöchsten Ausländeranteil, die größte Gruppe sind jedoch Zuwanderer aus Deutschland, die von vielen als willkommene Ausländer wahrgenommen werden."
Lebensumstände
"Die meisten anderen brandmarkt der rechte Rand, der sich bis in die politische Mitte ausbreiten konnte, als unerwünscht, vor allem jene aus Exjugoslawien und der Türkei, insgesamt 550000 Menschen. Sie stechen in
erster Linie im Wiener Stadtbild ins Auge. Es sind die billigen Wohngegenden entlang des Gürtels und in Favoriten, wo sie leben. Ein Wissenschaftlerteam um den Migrationsexperten Fassmann, Professor am Institut für Angewandte Geographie an der Universität Wien, hat die näheren Lebensumstände untersucht.
Fassmann: ‚Der soziale Status wird vererbt, es gibt kaum Mobilität.’
In einer Langzeitstudie haben die Experten die Wohnsituation in den vergangenen 25 Jahren erforscht und herausgefunden, dass sich der Zustand der Gebäude, in denen Türken und Exjugoslawen in Wien leben, deutlich verschlechtert hat. Der Anteil von Exjugoslawen und Türken, die in Wohnungen der Substandard-
Kategorie D wohnen, liegt mit 31,8 und 39,2 Prozent weit über dem Durchschnitt. Auf sie lauert die Armutsfalle: Jeder dritte Türke in Wien ist davon bedroht, aber nur jeder achte Österreicher. Ähnlich schlecht die Bildungschancen: Der Anteil von Türken und Exjugoslawen in Sonderschulen ist
überproportional hoch.“
Integrations und Diversitätsangelegenheiten
Zu Integrationsbemühungen in Wien schreibt der Autor sodann: „Doch jetzt mehren sich die Anzeichen, dass ein Umdenken stattfindet. Vor allem in Wien nehmen nun Stadtpolitiker den Begriff Zuwanderung in den Mund, ohne dem Wort automatisch einen negativen
Beigeschmack zu verleihen. Und sie sprechen das Thema offen an. Die Magistratsabteilung für Integrations und Diversitätsangelegenheiten lässt mehr und mehr Teams ausschwärmen, die soziale Konflikte in und um Wohnblocks schlichten und dort in der Muttersprache der Migranten Frieden stiften. In Büchereien werden
Computer aufgestellt, um verschleierte Frauen mittleren Alters, die schnell einmal ein Kinderbuch holen, die ersten Schritte im Internet wagen zu lassen. Die skandalgeschüttelte Wiener Polizei will den Zuwanderern
den Dienst in Uniform schmackhaft machen und wirbt um Rekruten mit Migrationshintergrund.
Wien hat sich zudem einem Netzwerk von 24 europäischen Städten (Cities for Local Integration Policies) angeschlossen, in dem versucht wird, Integrationspolitik aktiv zu gestalten und die Erfahrungen damit
auszutauschen. Gebastelt wird auch an sogenannten Integrationsindikatoren – Parametern, anhand derer festgestellt werden kann, ob und wie Integration stattfindet.
Von ausländischen Beispielen kann Wien viel lernen. Etwa von Amsterdam, wo seit je viele Zuwanderer leben. (…)“
‚Österreich ist ein Zuwanderungsland’
Von Friedrich Heckmann, Professor am Europäischen Forum für Migrationsfragen, werde Integration als ‚dauerhafter Prozess der Eingliederung … ohne Aufgabe der jeweils eigenen kulturellen Identität’ definiert.
„Von einer derartigen Festlegung ist Österreich weit entfernt. Doch möglicherweise zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab, indem ein Begriff Österreich weit vom Index gestrichen wird und in den alltäglichen Sprachgebrauch aufgenommen wird: Zuwanderung. Reinhold Mitterlehner, stellvertretender Generalsekretär der österreichischen Wirtschaftskammer, hat solche Berührungsängste abgelegt und prangert offen den integrationsfeindlichen Kurs an. Mitterlehners Zugang ist pragmatisch: Schon jetzt gibt es einen Mangel an Facharbeitern, der in den kommenden Jahren größer wird – ein nicht zu unterschätzendes Problem für die
Wirtschaft.
Demonstrativ besuchte er in der Vorweihnachtszeit einen Betriebskindergarten, um dort eine Software zu präsentieren, mittels derer die Knirpse Sprachbarrieren leichter überwinden können. »Schlaumäuse« heißt
das Computerprogramm, und der Eindruck drängt sich auf, Mitterlehner wolle weniger seinen politischen Gegnern als vielmehr den Parteifreunden zeigen, wer hier der Schlaumeier ist. Mitterlehner ist Parteikollege von Scharfmacher Platter und vertritt eine Kernschicht der Konservativen. Er nimmt Prügel in Kauf und sagt ungeniert einen Satz, der nicht oft zu hören ist aus einer Partei, die ihn lange beharrlich verweigert hat:
‚Österreich ist ein Zuwanderungsland.’“