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Di | 26.11.2013
Felicitias Hillmann / Foto: Christian Fürthner / Rathauskorrespondenz
"Feminisierung der Migration"
Die Migration in und nach Europa ist zumindest zur Hälfte von Frauen geprägt: nicht nur, dass sich die Anzahl der weiblichen Migranten seit den 1990er Jahren jener der männlichen angeglichen hat, sondern auch in ihrer Ausprägung nimmt sie Spezifika an.
2. Metropolis Zwischenkonferenz Quantität: Anstieg der Zahlen
Zu diesen Schlüssen kommt die deutsche Wissenschaftlerin Felicitas Hillmann anhand von Studien und trotz - wie beklagt - dürftiger geschlechtsspezifischer Daten im Bereich der Migration. Anlässlich der 2. Metropolis Zwischenkonferenz mit dem Titel "Gender in Migration" im Wiener Rathaus betonte die Professorin am Institut für Geographie der Universität Bremen eine "Feminisierung der Migration" und dies vor allem in den letzten zehn Jahren. So seien die Zahlen von migrierten Frauen einerseits und Männern anderereits bei einer Gesamtzahl von 191 Millionen Migranten in Europa fast ausgeglichen. Außerdem gebe es bereits Länder, aus denen mehr Frauen als Männer emigrieren, wie z.B. aus ehemaligen Sowjet-Staaten oder manchen osteuropäischen Ländern.
Felicitas Hillmann Qualität: Sozioökonomische Faktoren
Aber nicht nur der zahlenmäßige Anstieg der weiblichen Migranten lässt die Aussage der Feminisierung zu, sondern auch sozioökonomische Faktoren. Zu denen zählt Hillmann ein stärkeres Sichtbarwerden von Migrantinnen, eine erhöhte Verletzlichkeit von Frauen durch Zwangsarbeit oder sexuelle Ausbeutung oder auch die Verfestigung von geschlechtsspezifischen Geographien. Als Beispiel für Letzteres werden etwa haushaltsnahe Dienstleistungen, die vornehmlich in Verbindung mit Migrantinnen zu sehen sind, genannt.
Wahrnehmung von Migrantinnen
Hillmann hob in ihren Ausführungen hervor, dass sich die öffentliche Wahrnehmung von Migrantinnen seit den 1960er Jahren drastisch geändert habe: seien Migrantinnen anfangs als "Anhängsel" von Männern gesehen worden, wurden sie in den 1970er und 1980er Jahren verstärkt als "defizitäre, unmoderne" Menschen verstanden und schließlich in den 1990er Jahren als "stark in ihren Rollenzuschreibungen verhaftete Frauen".
Zwangsarbeit &
sexuelle Ausbeutung
Verstärkte Verletzlichkeit von Frauen
Von der Vulnerabilität, also der Verletzlichkeit, etwa durch Zwangsarbeit oder sexuelle Ausbeutung, seien laut Hillmann Frauen stärker betroffen als Männer. Als Gründe nannte sie eine durchschnittlich geringere Bildung, erlernte Rollenmuster, geringere finanzielle und materielle Ressourcen und Gewaltanwendung. Grundsätzlich sprach die Wissenschaftlerin auch von einer "Feminisierung der Armut" weltweit, die Frauen zwingen würde, andere Überlebensstrategien zu finden.
"Schlüssel-Schloss-Prinzip" Problem der haushaltsnahen Dienstleistung
Im Zusammenhang mit den haushaltsnahen Dienstleistungen, die primär von weiblichen Migranten angeboten werden und zu neuen Arbeitsteilungen auch unter den Frauen weltweit führt, sprach Hillmann von einem "care drain", den Wegzug von Pflegeleistenden, in Anlehnung an das bereits geläufigere "brain drain", d.h. die Abwanderung von Fachkräften aus ihren Herkunftsländern. Den Grund für eine Vereinheitlichung dieser Dienstleistungen abseits der gesetzlichen Bestimmungen sieht sie in einem "Schlüssel-Schloss-Prinzip", das zwar für alle Beteiligten kurzfristig einen Profit bringt - etwa durch flexible, billige und professionelle Arbeitskräfte für die Nachfrageseite und Investitionen im Herkunftsland für die Angebotseite oder eine Umgehung von Besteuerung für beide Seiten -, langfristig gesehen aber dadurch für beide Seiten Kosten (z.B. einerseits Steuerausfall, andererseits keine Absicherung) entstehen. Dieses Prinzip erlaube damit das Bestehen der Migration über einen längeren Zeitraum.
Mangelnde Daten & Forschung
Generell beklagte die Wissenschaftlerin bei der Konferenz eine schlechte Dokumentation der weiblichen Migration und mangelnde Forschung in diesem Bereich, mit seinen unterschiedlichen Ausprägungen - von der Bildung über Arbeit bis hin zu Aspekten des Älterwerdens. Dieser Kritik schlossen sich weitere Expertinnen in einem City-Panel an, in dem Best-practice-Modelle und Ansätze zur Frage der Situation von Migrantinnen in den Städten Berlin, Basel, Stuttgart und Wien erörtert wurden.
Zugang zur Debatte Vom Negativen zum Positiven
Prinzipiell forderten alle Panel-Teilnehmerinnen eine Umkehr im Zugang zum Thema der Migrantinnen: nämlich weg von einer Negativdebatte und hin zu einer Fokussierung auf das Positive, ohne dabei die Probleme zu übersehen. Die SPD-Abgeordnete im Berliner Abgeordnetenhaus Dilek Kolat betonte, dass Berlin von seiner "internationalen Ausstrahlung" profitiere und in diesem Sinne sollte man sich auch in der Integrationspolitik mit Chancen und Profiten der Migration auseinandersetzen.
Dilek Kolat Unterschiedliche Typen von Migrantinnen
Kolat warnte in ihren Ausführungn explizit vor einer vereinfachten Wahrnehmung der Migrantin als Migrantin und nahm dementsprechend eine Typisierung nach Lebensrealitäten vor:
  • Migrantinnen der 1970er Jahre, die verstärkt allein emigriert waren und heute bereits im Seniorenalter mit spezifischen Bedürfnissen sind;
  • Migrantinnen der so genannten zweiten und dritten Generation, deren Spezifikum vor allem eine hohe Bildungsmotivation ist und
  • als dritten Typ, die so genannten "Nachzügler-Frauen", immigriert durch Heirat oder Familienzusammenführung, die in ihrem Herkunftsland sozialisiert worden sind, über einen guten Bildungsstand verfügen, der jedoch im Zielland selten anerkannt wird.

  • Ursula Matschke Bruch im Bildungsbereich
    Zukünftigen Handlungsbedarf sieht Kolat vor allem bei der Schaffung von mehr Chancen im Bereich der Bildung und am Arbeitsmarkt, in spezifischen, niederschwelligen Beratungsangeboten und im Schutz gegen Diskriminierung und Gewalt. Die durch die PISA-Studie bestätigte Feststellung, dass Frauen der 2. und 3. Generation zwar gute Schulabschlüsse vorweisen könnten, es aber im Übergang zur Berufsausbildung oder Studium zu einem Bruch komme, konnte auch die Panel-Teilnehmerinnen bestätigen. Ursula Matschke, Gleichstellungsbeauftragte in Stuttgart, sieht diesen Bruch sogar noch zu einem früheren Zeitpunkt, nämlich beim Übergang von Vorschule und Schule. So würde Stuttgart als "kinderaussterbende Stadt" bei dieser Schnittstelle ansetzen und bietet beispielsweise - so wie Wien auch - Deutschkurse für Mütter unter dem Namen "Mama spricht Deutsch" oder diverse Theaterprojekte an.
    Inés Mateos Integration von Kindern & Jugendlichen
    Zu einem weiteren Schwerpunkt der Stadt Stuttgart zählt laut Matschke die Integration von Langzeitarbeitslosen - unter denen der Anteil von Migranten ein hoher ist - oder die Zusammenarbeit zwischen Senioren und Jugendlichen. Als zentrale Herausforderung für die Politik bezeichnete Inés Mateos vom Gleichstellungsbüro Basel-Stadt die Integration gerade von Kindern und Jugendlichen. Eine besondere Rolle nehmen dabei die so genannten Secondas - Angehörige der 2. Generation - in der Schweiz ein, bei denen laut Mateos die Identitätsfindung besondere Bedeutung habe. Die Merkmalen der Secondas laut Mateos: dass sie sich nicht selbst zur Migration entschlossen haben, entweder nachgeholt oder bereits im Land geboren wurden, aber dennoch von der Migrationspolitik betroffen und von Partizipationsmöglichkeiten ausgeschlossen seien.
    Das von Mateos geleitete "Cafe Secondas" in Basel, wo manche Stadtteile einen MigrantInnen-Anteil von bis zu 50 Prozent hätten, ist ein Projekt von, für und mit Migrantinnen. So sollten Migrantinnen erreicht und ihre Potenziale erkannt werden und damit - laut Mateos - eine positive kollektive Identität aufgebaut werden. Nach einem Jahr Arbeit sei nun angedacht worden, ein Kompetenzzentrum zu gründen, das als Art Schaltstelle fungiert, dabei das Potenzial von Migrantinnen aufgreift und Vorbildrollen für andere Migrantinnen entstehen.
    Sonja Wehsely "Eigenständiges & selbstbestimmtes Leben"
    Die Wiener Frauen- und Integrationsstadträtin Sonja Wehsely (SPÖ), die als Gastgeberin die Konferenz auch eröffnet hat, betonte als ihr erklärtes Ziel: dass Frauen ein "eigenständiges und selbstbestimmtes Leben" leben können. Sie nannte diesbezüglich vor allem notwendige Maßnahmen:
  • im Bereich des Arbeitsmarkts und der Mädchen-Förderung, damit sie auch berufliche Chancen in anderen, nicht-weiblichen Berufen, sehen können;
  • im Bereich des Erwerbs der deutschen Sprache als "erster Schlüssel" zur Integration;
  • bei der Nützung der vielfältigen Potenziale für die Wirtschaft sowie
  • im Bereich der älteren Migrantinnen, um auf ihre spezifische Bedürfnisse eingehen zu können. Generell forderte Wehsely aber, die Vielfalt als Realität wahrzunehmen und damit so zu "händeln, dass alle davon etwas haben".

  • Tatjana Koren, volksgruppen.ORF.at