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Di | 26.11.2013
KZ Mauthausen - slika:apa
3.7.2013
"Seelischer Haftungszusammenhang"
Die (Zeit-)Geschichte geht nicht vorbei. Sie wird von Tätern und Opfern historischer Ereignisse an ihre Kinder und Enkelkinder vollinhaltlich vermittelt, halb oder ganz verschwiegen.
23. Internationale Sommerakademie des Instituts für jüdische
Geschichte Österreichs
Kinder- und Enkelkindergeneration wiederum beeinflussen retrospektiv das Erinnerungsverhalten der Familie. Was wohl für die gesamte Historie der Menschheit gilt, gilt noch viel mehr für den Holocaust des 20. Jahrhunderts. Die 23. Sommerakademie in Wien des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs befasst sich deshalb mit dem Thema "Drei Generationen - Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis".
"Familiengedächtnis" bei Täter und Opfer
Das "Familiengedächtnis" betrifft Täter und Opfer. Zeithistoriker Philipp Mettauer heute bei der Eröffnung: "Es ist das Familiengedächtnis einer Familie oder mehrerer Familien. Das ist nichts Fixes. Es kommen ständig neue Informationen hinzu." Gerade die Erinnerung an die Shoah und den Nationalsozialismus müssten systemisch betrachtet werden: "Das Wissen wird nicht nur von Eltern an die Kinder weitergegeben. Geschwister, Cousins etc. tragen ebenfalls bei. Auch von der jungen zur älteren Generation fließen Informationen. Es kann Verdrängtes Vergangenes und Verschüttetes wieder auftauchen."
Weitergabe an Nachkommen
Der zeitliche Abstand zu den grässlichen Verbrechen der NS-Zeit wächst. Umso wichtiger wird das Festhalten der Aussagen der letzten direkten Zeitzeugen, aber auch die Analyse von Verhalten und Bewusstsein der Generationen ihrer Kinder und Enkelkinder. Mettauer: "Wir stehen an einer Wende, in der die Zeitzeugen des Nationalsozialismus sterben, ihr Erleben aber an die Nachkommen weitergegeben haben - ihre Vertreibung und ihre Traumatisierung." Der Zeithistoriker zitierte dazu den Begriff eines "seelischen Haftungszusammenhangs": "Die Laufzeit uneingelöster 'Kredite' kann generationsüberschreitend sein."
Verdrängung & Wissen
Diese weit über die direkten Opfer hinausgehenden Konsequenzen haben eine enorme Bandbreite. "Vielleicht entdecke ich etwas, was ich über mich gar nicht wissen will", zitierte der Wissenschafter eine Schlagzeile, die in Richtung Verdrängung deutet. Mettauer: "Man gräbt nicht gerne, wo eventuell 'Leichen im Keller' sind." Ein Beispiel: In manchen Familien in Österreich setzt die "Zählung" der ehemaligen Angehörigen dort aus, wo ein Kind Opfer der Euthanasie-Verbrechen wurde. Auf der anderen Seite gab es Holocaust-Überlebende, die mit ihren Erlebnissen ihre Kinder völlig in Beschlag nahmen.
Familiengeschichten "Weitergabe von Emotionen"
Die Geschichte geht weiter: In Kinder- und Enkelgeneration vermischten sich die Nachkommen von NS-Opfern und NS-Tätern wiederum, stießen manchmal auf schockierende Inhalte ihrer Familiengeschichten. Mettauer, der sehr viel in Argentinien über die deutschsprachigen jüdischen Emigranten und ihre Nachkommen geforscht hat: "Die Trennlinien zwischen Familien verschwinden. Es gibt weniger faktisch-historisches Wissen. Das wird diffuser. In der zweiten und dritten Generation geht es viel mehr um die Weitergabe von Emotionen."
NS-Verbrechen wirken weiter
So wirken die NS-Verbrechen auch nach Jahrzehnten weiter - in der Nachkommenschaft der Millionen Opfer wie der Millionen Täter. Für sie gilt: Sie haben eine gemeinsame Geschichte, aber unterschiedliche Geschichten. Die wohl positivste Konsequenz für das Lernen aus der Geschichte äußerte gegenüber dem Salzburger Historiker Albert Lichtblau die Tochter eines Überlebenden des KZ von Mauthausen am Rande des ehemaligen Granitsteinbruchs: "Mein Vater war sehr faktenorientiert bei seinen Schilderungen. Mir brachte das ein hohes Maß an Wachsamkeit und an Aufmerksamkeit, was Fairness in der Behandlung von Menschen angeht."