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Jugoslawien
16.7.2012 |
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Verblichener Vielvölkerstaat obduziert
"Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943 - 2011" lautet der staubtrockene Titel eines 568 Seiten dicken Wälzers, den der Südosteuropa-Experte Holm Sundhaussen im Böhlau-Verlag vorgelegt hat.
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Etwas griffiger ist da schon das Kleingedruckte: "Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen". Tatsächlich entwickelt der 60-jährige Professor für Südosteuropäische Geschichte an der Freien Universität Berlin bei seiner Obduktion des verblichenen Vielvölkerstaates so manche unorthodoxe Theorie.
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Klischee "Balkan" als "Pulverfass"
So räumt er etwa auf mit den Klischee, dass der "Balkan" ohnehin ein "Pulverfass" sei, das seit jeher stets zum Explodieren geneigt habe. Oder mit der mittlerweile vor allem in den Nachfolgestaaten weit verbreiteten Ansicht, dass Jugoslawien ein Kunstprojekt und von Beginn an dem Untergang geweiht gewesen sei. Sundhaussen hat da etwas anderes recherchiert: Noch zu Beginn der 1990er-Jahren hätten soziologische Forschungen gezeigt, dass eine Mehrheit der damaligen "Jugoslawen" - mit regionalen Unterschieden freilich - für einen Erhalt des Gesamtstaates gewesen sei und nicht unbedingt eigene Nationalstaaten anstrebte.
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Ethnischer Nationalismus nicht endemisch
Der ethnische Nationalismus war in Jugoslawien also nicht endemisch, sondern eine Folge der sozioökonomischen und politischen Krise der 1980er Jahre, folgert Sundhaussen. "Er wurde bewusst von Eliten aus Politik und Religion geschürt." "Ungewöhnlich" sei der blutige Zerfall Jugoslawiens auch deshalb gewesen, weil Ende des 20. Jahrhunderts an sich gedacht wurde, dass der Krieg als Mittel zur Fortsetzung der Politik ausgedient habe.
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"Der Mensch wiederholt sich"
Es sei aber nicht die Geschichte, die sich wiederhole, so der Autor in einer etwas moralisierenden Schlussfolgerung. Sondern: "Der Mensch wiederholt sich". Und zwar in dem Sinne, dass "Menschen überall auf der Welt gewaltfähig" und in sozialen Gruppen zu Taten imstande seien, die sie als Individuum nie begehen würden. Nur so wurde durch den Aufstieg "nationalistischer Deutungseliten" ein ethnisch und religiös motiviertes Schlachten möglich, lautet eines der Ergebnisse von Sundhaussens Autopsie.
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Verteilungsstreitigkeiten
Im Grunde seien den Konflikten die Verteilungsstreitigkeiten zwischen den damaligen Teilrepubliken Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Serbien und Slowenien zugrunde gelegenen. Wobei sich diesbezüglich bei den nunmehrigen Nachfolgestaaten, zu denen mit Abstrichen auch der international noch nicht vollständig anerkannte Kosovo dazuzuzählen ist, nicht viel geändert hat.
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Nachfolgen des Krieges
"Seit dem Ende Jugoslawiens sind 20 Jahre vergangen", schreibt Sundhaussen. "Mit Ausnahme Sloweniens und mit Abstrichen Kroatien hat sich keiner der postjugoslawischen Staaten wirklich konsolidieren können. Alle leiden noch an den direkten oder indirekten Folgen der Kriege sowie ihrer sozialen und psychischen Verwerfungen."
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Slowenien als Spitzenplatz
Das Entwicklungsgefälle im postjugoslawischen Raum unterscheide sich heute kaum von jenem in den 1960/70er-Jahren oder von den "Befunden für das erste Jugoslawien", so der Autor: "Das ehemals cisleithanische Slowenien nimmt jeweils den Spitzenplatz ein, gefolgt vom ehemals transleithanischen Kroatien, während die vormals osmanischen Gebiete deutlich schlechter abschneiden, mit Unterschieden zwischen Serbien und Montenegro, die beide im 19. Jahrhundert ihre Unabhängigkeit erlangten, auf der einen sowie Bosnien-Herzegowina und Kosovo, die erstmals nach dem Ende des zweiten Jugoslawiens zu eigenständigen Staaten wurden, auf der anderen Seite."
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200.000 Tote
So gesehen mag sich in den vergangenen Jahrzehnten wenig getan haben. Da in den Sezessionskriegen aber dennoch 200.000 Tote zu beklagen waren, geht Sundhaussen den Ursachen auf den Grund. Sein Seziermesser führt er sehr genau. Sein Befund zur durchaus wechselvollen (Kranken)geschichte Jugoslawiens umfasst viele politische, ökonomische, soziale, ideologische und kulturelle Ebenen sowie die regionalen Auffälligkeiten der einzelnen (Teil-)Republiken.
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Dankenswerter Weise hat der Pathologe Ex-Jugoslawiens seine Diagnose in viele Unterkapitel unterteilt, sodass auch gezielt jene Themen nachgelesen werden können, die jeweils besonders interessieren. Denn das Lesen am Stück ist beim "großem Sundhaussen" ein langwierig-ehrgeiziges Unterfangen.
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Holm Sundhaussen, "Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943 - 2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen." Böhlau-Verlag, Wien 2012. 568 Seiten, 59 Euro. ISBN 978-3-205-78831-7
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