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Di | 26.11.2013
Ärzte im Kreissaal
5.6.2012
Herausforderung: Migration & Medizin
In der medizinischen Betreuung von Migranten spielen ein möglichst niederschwelliger Zugang zum Gesundheitswesen sowie spezielle Rücksichtnahme auf deren Einstellungen und Bedürfnisse eine entscheidende Rolle.
Dies erklärte gestern Abend bei der österreichischen Ärztewoche in Grado (bis 9. Juni) die Wiener Spezialistin Türkan Akkaya-Kalayci, Leiterin der Ambulanz für Transkulturelle Psychiatrie und migrationsbedingte Störungen an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Vertrauensverhältnis: Patient & Arzt
Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Prävention, Diagnose und Therapie von Krankheiten sind in der Humanmedizin universell. Doch kommt es zu keinem Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt, gibt es nicht überbrückbare Verständnisschwierigkeiten, hilft die ganze moderne Medizin nichts. Das gilt besonders für Migranten bzw. Menschen mit Migrationshintergrund bei der Inanspruchnahme der Leistungen des Gesundheitswesens.
Die Kinderpsychiaterin: "Die medizinische Behandlung und Betreuung, die kulturelle und religiöse sowie Migrationsgründe- und -prozesse berücksichtigt, erhöht die Zuverlässigkeit der Diagnosen. Das führt zu einer signifikanten Verbesserung der Compliance (Befolgung der angeordneten Therapie, Anm.) und trägt zu optimalen Behandlungsergebnissen bei."
Hindernisse in Arzt-Patient-Beziehung
Oft auftretende Hindernisse, welche speziell die Arzt-Patienten-Beziehung betreffen, so die Expertin: "Gegenseitige Ängste und Hemmungen, mangelndes Wissen über Krankheitskonzepte, Erklärungsmodelle und Betreuung bei beiden Seiten sowie Kommunikationsbarrieren, z. B. plastische Erklärungen, Sprach- und Kulturbarrieren, und gegenseitige Vorurteile."
"Südländer Syndrom"
Die Folgen können für die Betroffenen störend, frustrierend oder gesundheitlich gefährlich sein. Es kann zu falschen Diagnosen kommen - bei unklaren körperlichen Beschwerden bzw. Schmerzzuständen wird zum Beispiel manchmal fahrlässig von einem "Südländer Syndrom" gesprochen, weil Menschen aus südlichen Ländern auch psychische Probleme oft als physische Beschwerden artikulieren.
Unbemerkte Krankheit
Ein Beispiel, das die Wiener Expertin nannte: Eine 53-jährige Türkin kam - vom Hausarzt wegen "Depressionen" überwiesen - an die psychiatrische Universitätsklinik. Sie war seit zwei Jahren immer schwächer geworden und konnte seit sechs Monaten aus angeblich unerklärlichen Gründen nicht mehr ohne Krücken gehen. Das Untersuchungsergebnis: Die Frau hatte eine schwerste Blutarmut, die unbemerkt geblieben war, und benötigte Bluttransfusionen zur Behebung der de facto bereits lebensgefährlichen Anämie. Keine Spur einer primär dafür verantwortlichen psychischen Erkrankung.
Doctor-Shopping
Eine weitere Problematik, die aus mangelndem Verständnis zwischen Patienten mit Migrationshintergrund und ihren Ärzten zustande kommen kann: Doctor-Shopping und fehlendes Verstehen der Auswirkungen einer Diagnose und der notwendigen Therapie. Das kann die bestgemeinte Medizin und ihre modernsten Mittel zunichte machen.
Gesundheitsbefragung Öfter chronische Angst & Depression
Dabei hätten gerade Menschen mit Migrationshintergrund besonders umfassende und intensive Hilfe notwendig. Sie sind von verschiedenen gesundheitlichen Störungen häufiger betroffen. Türkan Akkaya-Kalayci, zitierte in Grado Daten aus der Gesundheitsbefragung der Statistik Austria: "Personen ausländischer Herkunft sind stärker von chronischer Angst und Depressionen betroffen als Österreicher - mit zwölf versus sieben Prozent."
Erste & Zweite Generation Häufiger Schizophrenie-Erkrankungen
Wissenschaftliche Studien aus den Niederlanden und aus Deutschland haben sowohl ein höheres Suizidrisiko als auch häufigere Suizidversuche und öfter auftretende Suizidgedanken bei türkisch sprechenden jungen Immigranten zutage gebracht. Die Wiener Expertin: "Immigranten erster und zweiter Generation haben ein fast dreifach höheres Risiko für Schizophrenie-Erkrankungen. Die Ursache sind physische und psychische Belastungen während des Migrationsprozesses." Das Erleben von Ausgrenzung sei hier ebenfalls ein negativer Faktor. Und schließlich: Der offenbar größtes Risikofaktor für eine Schizophrenie bei Migranten ist eine "andere" Hautfarbe.
Psychisch bedingte Erkrankungen
Doch es ist längst nicht nur die Psyche, die Menschen mit Migrationshintergrund gesundheitlich vulnerabel machen. In dieser Bevölkerungsgruppe treten auch viele chronischen psychisch bedingten Erkrankungen oft häufiger auf: Herz-Kreislauferkrankungen, Typ-2-Diabetes, bestimmte Infektionserkrankungen wie TBC oder HIV. Das ist zumeist die Konsequenz eines ungesünderen Lebensstils, eines schlechteren Zugangs zum Gesundheitswesens und des sozialen Umfelds.
Zugang zu Gesundheitswesen wesentlich
Dabei könnte gerade das Gesundheitswesen eine menschlich, gesellschaftlich und letztlich auch politisch hervorragende Rolle in der Aufnahme von Migranten in Staat und Gemeinschaft spielen. Die Wiener Psychiaterin: "Die meisten Migranten haben die Tendenz, den Kontakt mit offiziellen Stellen, wenn er nicht unbedingt notwendig ist, zu vermeiden. Das Gesundheitswesen (dem kann der Einzelne nicht gut auf immer "ausweichen", Anm.) präsentiert für sie die gesamte Gesellschaft - das wird generalisiert." Würden sich Migranten im Gesundheitswesen gut akzeptiert und aufgehoben fühlen, würde sich das äußerst positiv auf ihren Zugang zur gesamten Gesellschaft auswirken.