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Di | 26.11.2013
Adolf Eichmann / Foto: dpa/Stephanie Pilick
23.5.2012
Tote Augen verfolgen Henker bis heute
Der Schrecken der Hinrichtung des Holocaust-Organisators Adolf Eichmann lässt seinen Henker auch 50 Jahre danach nicht los.
Auf lebhafte Weise und bis ins Detail erzählt der 76-jährige Schalom Nagar in seiner Wohnung in Holon, einer Vorstadt von Tel Aviv, von den schicksalhaften Stunden in der Nacht auf den 1. Juni 1962. "Ich habe danach ein ganzes Jahr lang schrecklich gelitten", betont der Henker wider Willen.
Schalom Nagar ausgelost
Israel hatte Eichmann nach dessen Entführung aus Argentinien und einem aufsehenerregenden Prozess Ende 1961 zum Tode verurteilt. Einer von insgesamt 22 Wächtern im Gefängnis von Ramla bei Tel Aviv sollte das Urteil vollstecken. "Der Kommandant kam zu mir und fragte mich: 'Willst Du auf den Knopf drücken?'", erzählt der in Sanaa im Jemen geborene Nagar. "Ich sagte ihm: 'Nein, lass mich, ich will nicht'". Er solle doch lieber "einen von den aschkenasischen (aus Europa stammenden) Juden, die ihre Familien verloren haben", damit beauftragen. Alle anderen Wächter seien durchaus bereit gewesen, Eichmann zu hängen. "Zum Schluss wurde ausgelost, und ausgerechnet ich kam dran", erinnert sich der weißhaarige alte Mann mit den langen Schläfenlocken.
Eichmann ein Jahr lang bewacht
Nagar hatte den Mann, den er nun töten sollte, ein halbes Jahr lang bewacht und hautnah miterlebt. Der NS-Verbrecher, der als einer der Hauptorganisatoren der Judenvernichtung in Europa gilt, sei stets höflich gewesen. "Wenn ich nicht gewusst hätte, was er getan hat, hätte ich vielleicht gedacht, er sei ein Heiliger", sagt Nagar mit einem ironischen Lachen. Meistens habe Eichmann tagsüber an einem Tisch gesessen und seine Erinnerungen aufgeschrieben.
Nagar musste Eichmann das Essen in die Zelle bringen und ihn häufig auch auf die Toilette begleiten. "Ich habe die Behälter mit dem Essen auf dem Weg von der Kantine bis zur Zelle mit einem Schloss gesichert", sagt Nagar. Während des Prozesses habe man befürchtet, jemand könne versuchen, Eichmann als Rache für den Massenmord an den europäischen Juden zu vergiften. "Ich musste sein Essen auch immer vorkosten."
Vom Beschützer zum Henker
An dem Tag der Urteilsvollstreckung musste Nagar dann den plötzlichen Wandel von Eichmanns Beschützer zu seinem Henker vollziehen. Für die erste und letzte Hinrichtung in der israelischen Geschichte war im Ramla-Gefängnis eigens eine besondere Vorrichtung gebaut worden.
"Die Deutschen zeigen eben keine Gefühle"
Nach dem letzten Besuch eines Pastors und seines Anwalts habe Eichmann sich auf eine Falltür stellen müssen. "Wir haben ihm den Strang um den Hals gelegt." Der Nazi-Verbrecher sei äußerlich sehr gefasst gewesen. "Er hat vielleicht innerlich etwas gespürt, aber er hat nichts gezeigt - die Deutschen zeigen eben keine Gefühle, sie sind stark", meint Nagar. "Er sah sich doch als Teil eines besonderen Volkes - würde er mir da zeigen, dass er Angst hat?" Er habe dann auf einen Knopf drücken müssen, der die Falltür öffnete.
Eichmann sei durch das Loch im Boden in eine tiefere Etage gefallen. Der Anblick sei schrecklich gewesen. "Ich sah ihn hängen und sein Gesicht war ganz weiß und seine Augen traten so stark hervor", erzählt Nagar und reißt seine eigenen Augen dramatisch auf. "Seine Zunge hing bis hier", sagt er und zeigt auf die Brust.
"Es war, als ob er mich anbellte"
Als sie die Leiche Eichmanns hochhoben und aus der Schlinge befreiten, sei plötzlich Luft aus dessen Bauch entwichen. Der Tote habe ein unheimliches grummelndes Geräusch direkt in Nagars Gesicht abgegeben. "Es war, als ob er mich anbellte." Er habe sich darüber fürchterlich erschreckt und sei etwa ein Jahr lang traumatisiert gewesen. Nach der Hinrichtung habe man Eichmanns Leiche verbrannt und außerhalb der israelischen Gewässer im Meer verstreut.
Bedeutung von "Mizva"
Unter dem Eindruck der Hinrichtung sei er religiös geworden, erzählt der dreifache Vater, der inzwischen schon elf Enkelkinder hat. Erst später habe er begriffen, dass es eine "Mizva" - eine gute Tat - sei, einen derart bösen Menschen zu erhängen. Einen Besuch in Deutschland kann er sich bis heute nicht vorstellen. "Ich hätte Angst um meine Sicherheit", sagt Nagar. "Es gibt auf der Welt so viele Verrückte."