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Di | 26.11.2013
Schmelztiegel Istanbul Religiöse Minderheiten schwinden
Zu osmanischen Zeiten waren die Stadtviertel Fener und Balat am Goldenen Horn klassische Wohnbezirke der Christen in Istanbul.
Bedeutende Bauwerke aus dem christlichen Konstantinopel davon legen Zeugnis ab und der Sitz des Ökumenischen Patriarchen (Phanar) liegt noch immer dort. Doch die gut situierten Bürger dieser Minderheiten, ob Orthodoxe oder Armenier, zieht es heute anderswo hin, etwa in moderne Geschäftsbezirke wie Sisli. Ähnlich verhält es sich mit der jüdischen Bevölkerung, bestätigt der Istanbuler Historiker Naim Güleryüz gegenüber der APA.
Jüdische Gemeinde in ganz Istanbul verstreut
Die jüdische Gemeinde ist nach den Worten von Güleryüz heute in ganz Istanbul verstreut. In ihrer Wochenzeitung "Shalom" - mit Texten in Türkisch bzw. Ladino, der judeo-spanischen Sprache der Sephardim - erscheinen heutzutage mehr Todesanzeigen als Anzeigen über Geburten, bedauert der jüdische Historiker. Er selbst lebt im asiatischen Teil der Bosporus-Metropole. Ein Beobachter der religiösen Szene in Istanbul wiederum meint, der Anschlag auf die Neve-Shalom-Synagoge im traditionellen Galata-Viertel 2003 habe auch dazu beigetragen, dass die Juden dort nicht mehr so gerne leben. Dieses Bethaus gleicht heute einer vergitterten Festung.
20.000 Juden in der Türkei
Etwa 20.000 Juden zählt die jüdische Gemeinschaft in der Türkei, die große Mehrheit - 18.000 - ist in Istanbul wohnhaft, weitere leben in den großen Städten Ankara, Izmir und Edirne. Zu 96 Prozent sind die türkischen Juden heute Sephardim, Abkömmlinge spanischer Juden, die nach der Vertreibung durch die Katholischen Könige 1492 im Ottomanen-Reich Aufnahme fanden.
Der Anteil der Juden aus Osteuropa, der Aschkenasen, ist gering, ihnen steht eine der rund 20 funktionierenden Synagogen in der Stadt zur Verfügung, erläuterte Güleryüz jüngst in einem Vortrag im Jüdischen Museum in Wien.
Armenier
Die armenische Kathedrale liegt im Stadtviertel Kumkapi, wo sich - deutlich zu sehen an den unzähligen Billigläden und Imbissstuben-zahlreiche Immigranten aus Osteuropa angesiedelt haben, aber auch tausende Arbeitsimmigranten aus der Republik Armenien. Die großen religiösen Feste werden natürlich weiter in der Kathedrale gefeiert. Wir erlebten eine prächtige Hochzeit, das Gotteshaus erstrahlte im Schmuck weißer Blumengirlanden. Doch als Wohnviertel ist Kumkapi unter den rund 20.000 türkischen Armeniern in Istanbul nicht mehr sehr populär. Die wohlhabenden armenischen Familien sind eher in der Wolkenkratzer-City Sisli ansässig.
Griechisch-orthodoxe Kirchengemeinde
Auch für die griechisch-orthodoxe Kirchengemeinde ist die Überalterung ein großes Problem, wie der Sprecher des Ökumenischen Patriarchen Barholomaios, Dositheos Anagnostopoulos, im Gespräch mit Journalisten hervorhebt. Das Durchschnittsalter betrage 75 Jahre, und auch bei potenziellen Rückkehrern sei es so hoch; meist lassen diese Kinder und Enkel in Westeuropa oder Amerika zurück. Wie er selbst: Die Töchter von Anagnostopoulos leben in Deutschland, wo er eine Karriere als Biochemiker hinter sich ließ. Nur mehr 70 alteingesessene griechisch-orthodoxe Familien leben heute nach seinen Angaben am Bosporus. 1960 verzeichnete Istanbul noch 100.000 Griechen, heute ist die Gemeinde auf nur mehr rund 2.500 geschrumpft.
"Rum" (Rom) - Bezeichnung für Christen
Türkische Gesetze diskriminieren engste Familienangehörige der "Rum", wenn sie nicht in der Türkei geboren wurden. In den Dokumenten der in der Türkei Geborenen steht "Rum" (Rom) vermerkt, eine gängige Bezeichnung für Christen schlechthin. Doch selbst Kinder griechischer Rückkehrer dürfen die ethnischen Minderheiten-Schulen Istanbuls nicht besuchen, ebenso wenig wie die Kinder armenischer (Arbeits-)Immigranten aus der Republik Armenien. Auf dem Bildungssektor herrscht Sorge. "Wenn Fanatiker viel Geld in die Hand nehmen, etwa bei Ausbildungsstätten", dann sei Gefahr im Verzug, so ein Insider. Anagnostopoulos setzt seine Hoffnungen in die Jugend. Gebildete Jugendliche hinterfragen oft Dinge, die der türkische Lehrplan ausspart.
"Eiserne Kirche"
Seitens der Bulgarisch-Orthodoxen Kirche wird der gemäßigt-islamischen Regierungspartei AKP Lob wegen ihrer finanziellen Mithilfe bei der Renovierung von Baudenkmälern gezollt. Demetrios Atanasov, im Phanar für ökonomische Agenden zuständig, betont, diese Regierung sei die erste, die finanzielle Zuschüsse leiste. So habe die Istanbuler Stadtverwaltung zur Renovierung der "Eisernen Kirche", der Kathedrale der Bulgarisch-Orthodoxen am Goldenen Horn, und des Friedhofs der Gemeinde beigetragen. Dahinter steckt freilich ein Deal: Die Türkei zahlt zur Kirchenrenovierung dazu, Bulgarien zur Erneuerung der Moschee von Plovdiv. Laut Atanasov, der in seiner Kirche den Titel Arkon (Oberster Großprotektor) führt, hat die bulgarisch-orthodoxe Gemeinde in Istanbul etwa 600 Seelen. Das Gotteshaus mit Metallhülle stammt aus k.u.k.Zeiten; die Bestandteile wurden damals mit 350 Schiffsladungen auf der Donau nach Istanbul transportiert.
Bezirk Beyoglu
Auch im lebendigen zentralen Bezirk Beyoglu, nahe dem belebten Taksim-Platz, hat sich einiges geändert. Auf der Geschäftsstraße Istiklal Caddesi flanieren vor allem junge Menschen, modisch gekleidet, sie bevölkern die Boutiquen, Cafes und Restaurants. Doch es ist gar nicht so einfach, in diesem modernen Geschäftsviertel ein Esslokal zu finden, wo man auch ein Gläschen zum Abendessen trinken kann. Seit der Bezirk von der moderat-islamischen Regierungspartei AKP regiert wird, schenken viele Restaurants keinen Alkohol mehr aus. In Beyoglu finden sich das österreichische katholische St.Georgs-Kolleg und -Spital sowie die katholische St. Antonius-Kirche. Von den insgesamt 13 Klosterschwestern sind elf im Krankenhaus tätig.
Gemeinschaft der Adventisten
Bedroht fühlt sich in Istanbul die kleine Gemeinschaft der Adventisten; wegen einer Morddrohung stand sie zuletzt unter Polizeischutz. Das Gotteshaus der ältesten protestantischen Glaubensgemeinschaft im Osmanischen Reich - seit 1910 von der Hohen Pforte anerkannt - ist aufgrund des restriktiven türkischen Stiftungsgesetzes geschlossen. Eine der beiden kleinen Gemeinden versammelt sich heutzutage in einer ungenutzten katholischen Kirche. Auch in Izmir existieren zwei kleine Adventisten-Gruppen; ihre Mitglieder sind in beiden Großstädten ethnische Türken und Moldawier.