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Di | 26.11.2013
Flagge von Bosnien-Herzegowina
Bosnien: Land ohne Bevölkerungszahlen
Bosnien-Herzegowina ist das einzige europäische Land ohne genaue Einwohner-zahlen. Und ginge es nach dem Willen der zerstrittenen politischen Führer, könnte es weiterhin so bleiben, trotz der internationalen Verpflichtung, im Jahr 2011 eine Volkszählung durchzuführen.
Streit über den Inhalt des Fragebogens
Die Politiker lehnen die Volkszählung nicht ab, aber sie streiten über den Inhalt des Fragebogens. Während Serben und Kroaten darauf bestehen, dass die Zählung auch die religiöse und ethnische Zugehörigkeit umfassen muss, lehnen dies die Vertreter der Muslime entschieden ab.

Sollte es keinen Kompromiss zwischen den nationalistischen Führern geben, könnte der Hohe Internationale Vertreter eine Volkszählung erzwingen. Oder Bosnien bleibt auch 2011 ohne neue Bevölkerungszahlen, was eine der Grundbedingungen für die von allen Politikern angestrebte Annäherung an die EU ist.
Der Streit geht auf eine der Bestimmungen des Dayton-Friedensabkommens zurück, mit dem 1995 der Bürgerkrieg beendet wurde. Darin ist verankert, dass die politische Vertretung jeder der drei Volksgruppen in den örtlichen Staatsorganen der muslimisch-kroatischen Föderation und der Serbenrepublik prozentual deren Bevölkerungsanteil im betreffenden Landesteil entsprechen soll.
Letzte Volkszählung 1991
Als Referenz dafür gelten die Ergebnisse der bisher letzten Volkszählung von 1991 und nicht die heutige tatsächliche Zahl der Einwohner einer Region. Allerdings hat sich die Bevölkerungsstruktur im Krieg radikal verändert.
Die kriegsführenden Parteien hatten Angehörige anderer Nationalitäten massenweise ermordet oder "schlicht" vertrieben - damals als ethnische Säuberung international geächtet, aber vor Ort regelmäßig praktiziert. Als Folge hat sich auch die Bevölkerungsstruktur im ganzen Land von Grund auf verändert.
"... Säuberungen ... nicht akzeptieren"
Sollte aber tatsächlich abgezählt werden, dürften die Muslime ihren politischen Einfluss in der Serbenrepublik praktisch vollkommen verlieren, denn ihr heutiger Anteil an der dortigen Bevölkerung ist sehr gering. "Wir können diese Folgen der ethnischen Säuberungen durch serbische Extremisten nicht akzeptieren", sagen die Muslimführer in Sarajevo.
Bei der letzten Volkszählung vor 18 Jahren war Bosnien noch Teilrepublik des damals gerade zerfallenden Vielvölkerstaats Jugoslawien. Damals gab es 4,3 Millionen Einwohner. Die Mehrheit mit 43,5 Prozent stellten die Muslime, Serben gab es 31,2 Prozent und Kroaten 17,4. Der Rest ging an kleinere Volksgruppen.
3,8 Millionen
Das Statistische Amt in Sarajevo gibt die heutige Zahl der Einwohner des Balkanlandes mit 3,8 Millionen an.

Manche Schätzungen gehen von 3,4 bis sogar 4,5 Millionen aus.

Es wird auch über die Zahl der Toten im Krieg (1992-1995) gestritten: waren es 100 000 oder 150 000? Unklar ist auch die Zahl der während und nach dem Krieg ins Ausland geflüchteten. Allgemein wird von etwa 600 000 gesprochen.
Drazen Simic, dpa