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Di | 26.11.2013
Belgien Volksgruppenstreit
Ministerpräsident Karl-Heinz Lambertz residiert kaum zwanzig Kilometer südlich von Aachen, in Eupen. Neben dem mit Akten überladenen Schreibtisch hängt das Bild seines Königs samt Königin (Albert II. und Paola):
Lambertz ist Regierungschef der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens. Vor den Regionalwahlen am 7. Juni - gleichzeitig mit der Europawahl - stehen dort zwar wie meistens die vielfach größeren Volksgruppen der niederländischsprachigen Flamen und der frankophonen Wallonen im Rampenlicht. Doch was diese durch ihren anhaltenden Zwist mit dem belgischen Königreich anrichten, hat auch für das einst zu Preußen gehörenden Eupener Land unmittelbare Folgen.
74.000 Angehörigen der DG
Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte. Lambertz will es so direkt nicht ausdrücken, doch tatsächlich haben die 74.000 Angehörigen der Deutschsprachigen Gemeinschaft (DG) Belgiens davon profitiert, dass sich ihre Nachbarn in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter auseinanderlebten und immer mehr Macht von der Bundes-auf die Regionalebenen verlagerten: Auf der einen Seite die Flamen im Norden, auf der anderen Seite die Französischsprachigen, die in der Wallonie im Süden leben und auch in der offiziell zweisprachigen Hauptstadt Brüssel die Mehrheit stellen.
Sprache und Geschichte
"Ihre Kompetenzen haben die Deutschsprachigen nur bekommen, weil die Flamen und Wallonen sie auch bekommen haben", sagt Christian Behrendt, Verfassungsrechtler an der Universität Lüttich. Zuvor hielt die Minderheit vor allem ihre Sprache und Geschichte zusammen: 100 Jahre zu Preußen gehörig, fiel das Gebiet nach dem Ersten Weltkrieg an Belgien und wurde ihm nach Hitlers Überfall und der Annexion im Zweiten Weltkrieg erneut eingegliedert. In Belgiens äußerst kompliziertem Staatsaufbau gehört Eupen nebenbei auch der Wallonischen Region an.
"Friterie" und "Fritüre"
Seit 1984 besitzt die DG Parlament und Regierung. Und das, obwohl der sich 70 Kilometer an der Grenze hinziehende, zweigeteilte Streifen zwischen Aachen im Norden und Luxemburg im Süden nur neun Gemeinden umfasst. Hauptstadt ist Eupen, wo Gebäude aus grauen Feld-und roten Backsteinen urige Gaststätten wie den "Goldenen Anker" beherbergen. Und während sich Flamen und Frankophone in diesen Wochen ein Scharmützel nach dem anderen liefern - zum Beispiel, in welcher Sprache Wahlbenachrichtigungen verfasst werden dürfen - wechseln viele Deutschsprachige bei Bedarf umstandslos in eine Nachbarsprache: Auf Pommes-Buden-Schildern in Eupen prangt wechselweise "Friterie" und "Fritüre".
DG
Aus dieser Idylle heraus bestimmen Lambertz, drei Minister und 25 Parlamentarier sogar die belgische Außenpolitik mit: Internationale Abkommen wie der Lissabon-Vertrag der EU brauchen grünes Licht aus Eupen, sonst darf die Bundesebene sie nicht ratifizieren. Und bei sich bestimmt die DG über Schulwesen, Gemeindefinanzen und Teile der Beschäftigungspolitik. Weitere Kompetenzen werden folgen, wenn Belgien seine sechste Staatsreform anpackt, ist Verfassungsrechtler Behrendt sicher. Doch trotz sich mehrender Macht in Eupen: Im politischen Tagesgeschäft auf Bundesebene ist die DG "keine reale politische Größe", gibt Lambertz zu. Zumal sie von ihrer Entscheidungsgewalt über Abkommen wie den Lissabon-Vertrag kaum negativen Gebrauch machen könnte, ohne sich ins Abseits zu manövrieren.
"Weil sie klein ist"
Viele Flamen und Frankophone zucken gar mit den Schultern, wenn es um die DG geht. Dort passiere wohl nichts, mutmaßt Mathias Vancoppenol, der unweit des Brüsseler Regierungsviertels auf die Straßenbahn wartet. Denn nicht einmal in der Wahlkampfzeit tauche die DG in der Zeitung auf: "Weil sie klein ist."

"Ich glaube nicht, dass wir eine große Rolle spielen", glaubt auch der Eupener Jean Bauer. Dabei fühlt der Rentner sich den Mitbürgern jenseits der Grenzen der DG durchaus verbunden. Er spricht Niederländisch und Französisch, hat seinen Taufnamen Johannes französisieren lassen und eine Wallonin zur Frau genommen: "Als wir heirateten, sprach sie kein Wort Deutsch."
Von Phillipp Saure/AFP