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Di | 26.11.2013
Lampedusa Flüchtlinge
27.8.2012
"Mohr im Hemd" von Martin Horváth
Ali fühlt sich als "Mohr im Hemd", noch öfter jedoch als Hahn im Korb: Ali Idaulambo ist ein jugendlicher Bewohner des "Leo", einer betreuten Wohngemeinschaft für Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge in einem Wiener Asylwerberheim.
"Mohr im Hemd oder Wie ich auszog, die Welt zu retten" Debütroman
Mit praktisch allen der 130 Mitbewohner kann sich der "melange- bis mokkabraune" junge Mann in ihrer Landessprache unterhalten, bei fast jedem Gespräch ist er dabei und nahezu jede (Vor-)Geschichte kennt er. So etwas gibt's natürlich nur im Film. Oder im Roman. "Mohr im Hemd oder Wie ich auszog, die Welt zu retten" ist der Debütroman des 1967 in Wien geborenen Musikers Martin Horváth. Darin versucht er, dem brisanten, aktuellen Thema mit Witz beizukommen, ohne es dabei zu entschärfen.
"Flüchtlingsbuddy"-Ausbildung
Horváth, der während eines fünfjährigen New-York-Aufenthalts auch als Journalist und Übersetzer sowie an einem Forschungsprojekt zur Geschichte der österreichisch-jüdischen Emigration in die USA arbeitete, hat seine Aufgabe ernst genommen. Er hat recherchiert, Material gesammelt und eine "Flüchtlingsbuddy"-Ausbildung am Wiener Integrationshaus absolviert. Er weiß daher, worüber er schreibt - und hat auch manche medienbekannte Fälle verklausuliert in seinen Roman aufgenommen.
Zusammenleben der Heimbewohner
Der Heim-Alltag, die prekären Beziehungen zwischen Asylwerbern, Betreuern und Behörden, das schwierige Zusammenleben der Heimbewohner - all das ist überaus lebendig geschildert. Wenn einzelne Schicksale hervorgehoben werden, der Leidensweg junger Frauen zwischen Glücksversprechen und Zwangsprostitution beschrieben wird, oder die Rekrutierung von Kindersoldaten und ihre Abhärtung durch unmenschliche "Mutproben" - dann geht einem das beim Lesen ordentlich an die Nieren. Dann wird deutlich, dass der lockere, lustige Erzählton nur dazu da ist, das hier versammelte Leid erträglich zu machen.
Erzähler Ali
Die Geschichten werden von Ali erzählt, und nicht immer ist klar, ob sie wirklich erlebt oder nur zusammengereimt sind. Doch auch Ali wird von einem furchtbaren Traum verfolgt: In diesem muss er immer wieder als stummer, schreckensstarrer Beobachter erleben, wie seiner Mutter und seiner Schwester von Soldaten Gewalt angetan wird. Als Asylwerber möchte er dagegen nicht tatenlos zusehen, wie Fremdengesetze verschärft werden, seine Freunde Opfer rassistischer Anfeindungen werden und Fremdenpolizisten Schubhaftbescheide exekutieren. Die Aktionen, zu denen er andere anstachelt, reichen von Straßentheater und dem Hacken von Webseiten bis zu Racheaktionen, Gefängnis-Sturm und Entführung der "Bundesabschiebeministerin". Reales und Surreales mischen sich zunehmend.
Aufschneider, Schelm, Robin Hood & Simplicissimus
Ali ist das Instrument des Autors, erfunden, um "Zeugnis abzulegen", "um die Geschichten aufzuspüren, sie der Finsternis zu entreißen, um solcherart Licht ins Dunkel zu bringen". Er ist ein Frauenheld, der täglich eine neue Liebste und Schönste anhimmelt (leider erhören sie immer jemanden anderen), ein gutherziger Aufschneider und Schelm, Robin Hood und Simplicissimus in einem, ein einfühlsamer Beschützer und ein glühender Revolutionär, ein guter Beobachter und ein oft unerwünschter Zuhörer. Dabei herrscht er souverän über Stil- und Ausdrucksmittel, erzählt salopp, ironisch und voller Witz, versteht es Pointen zu setzen und hat große Freude am Spiel mit der Sprache.
Epilog als Alptraum
Während sich dieser charmante, allwissende Erzähler in seiner Funktion sehr in den Vordergrund schiebt, bleibt ausgerechnet er als Person erstaunlich blass. Überhaupt hätte man sich die einzelnen Figuren gerne noch (an-)greifbarer gewünscht. Bei der Lektüre vermisst man lange eine Entwicklung, eine vorantreibende Handlung, doch gegen Ende überschlagen sich die Ereignisse. Ali erleidet einen Zusammenbruch, verliert bei einem Klinikaufenthalt das Zeitgefühl und muss nach seiner Entlassung feststellen, dass sich unterdessen alles zum Schlechteren gewandelt hat. Schönfärberei liegt Martin Horvath fremd, und sein Epilog ist ein Alptraum, in dem sich Hieronymus Bosch und das Goldene Wienerherz auf das Ekelhafteste verbinden.
Prekäre Lebenswelt von Flüchtlingen näherbringen
"Natürlich würde ich mit meinem Roman gerne die Welt verbessern, und es wäre schön, würden alle Fremdenhasser dieser Welt durch die Pflichtlektüre von 'Mohr im Hemd' auf immer von ihrer Xenophobie geheilt", erzählt Horváth in einem von seinem Verlag verbreiteten Interview. "Nachdem das wohl eher nicht der Fall sein wird, stecke ich mir ein etwas bescheideneres Ziel: den Lesern die prekäre Lebenswelt von Flüchtlingen näher zu bringen und zu einem entspannteren und konstruktiveren Dialog zu den Themen Asyl und Zuwanderung beizutragen." "Mohr im Hemd" ist ab heute in den Buchhandlungen erhältlich und wird am 6. September in der Wiener Hauptbücherei am Gürtel erstmals öffentlich präsentiert.